Interview mit Carole Lüscher-Gysi (Hebamme und Geschäftsleitung 9punkt9) — Die passende Ernährung während der Schwangerschaft

August 16, 2019

Gerade während der Schwangerschaft ist eine passende und ausgewogene Ernährung speziell wichtig, damit nebst der Frau auch das Kind optimal mit den nötigen Nährstoffen versorgt wird.

Doch worauf gilt es in dieser Zeit besonders zu achten?
Welches sind die Nahrungsmittel, die man wegen Gesundheitsrisiken vermeiden sollte?
Was kann man zum Beispiel bei Schwangerschaftsübelkeit tun?
Und ist ein Nahrungsergänzungsmittel während der Schwangerschaft in jedem Fall sinnvoll?

Diese und weitere Fragen durfte ich Carole Lüscher-Gysi stellen. Sie ist Hebamme und Geschäftsleiterin von der Hebammenpraxis 9punkt9 (Zentrum für Salutogenese rund um die Geburt).

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Herzlich willkommen liebe Carole. Ich lege gleich mit den Fragen los…

Wie ist es eigentlich mit der Gewichtszunahme während der Schwangerschaft? Welche Gewichtszunahme wird empfohlen?

Bis zwei Wochen nach der Geburt verliert die Frau rund 10kg des Gewichtes, welches sie vor der Geburt hatte. Dies sind Kind, Plazenta, Fruchtwasser, Blut, und vor allem im Gewebe eingelagertes Wasser. Was sie darüber hinaus zugenommen hat (und manchmal eben auch weniger), das bleibt oft noch einen Moment. Danach kommt es sehr darauf, welcher Stoffwechseltyp sie ist. Es gibt Frauen, die nehmen beim Stillen kontinuierlich ab, obwohl der Fettabbau nach der Geburt eher gehemmt ist. Das Kind soll die im Fettgewebe eingelagerten Schadstoffe nicht über die Muttermilch erhalten. Andere nehmen beim Stillen zu. Die Dritten nehmen weder ab noch zu, und das Gewicht geht erst nach dem Abstillen runter. Ich frage die Frauen in der Schwangerschaft, welches Verhältnis sie zu ihrem Gewicht haben und informiere sie wie gerade erwähnt. Für manche Frau ist es gut zu wissen, dass sie die Kilos nicht einfach wieder verliert nach der Geburt, und das Gewicht etwas im Auge hält, eine andere Frau muss etwas Reserve anlegen, weil sie von sich weiss, dass sie mit wenig Schlaf und Stress schnell Gewicht verliert.

Häufig hört man ja den Satz, dass man in der Schwangerschaft für zwei essen soll um die benötigte Energie aufzunehmen. Steigt der Energiebedarf wirklich in diesem Umfang an? Was sagst du dazu?

Man soll auf keinen Fall für zwei essen. Tatsächlich ist der Kalorienbedarf in der Schwangerschaft nur etwa um 300 kcal höher, also etwa eine Schale Müesli mit Milch oder eine dicke Scheibe Ruchbrot.

Welches sind deiner Meinung nach die drei wichtigsten Ernährungstipps während der Schwangerschaft? Worauf gilt es speziell zu achten?

1.) Die Ernährung muss ausgewogen und vielfältig sein. Vielen Frauen fehlen Hülsenfrüchte, sowie Ballaststoffe und Vitamine in Obst und Gemüse.
2.) Dem verlangsamten Magen-Darm-Trakt muss Rechnung getragen werden mit dem, was man wann isst, also Mittags rohes Gemüse und rotes Fleisch, abends gekochtes Gemüse und weisses Fleisch.
3.) Die Energie wird auf den ganzen Tag verteilt gebraucht, sehr regelmässig, also heisst dies, eher 6 kleine Mahlzeiten zu sich zu nehmen, als drei grosse. Der Blutzuckerspiegel fällt eher ein, wenn man nur 3x isst.

Welche Lebensmittel sollte man deiner Meinung nach wegen Gesundheitsrisiko mit Vorsicht geniessen oder ganz vermeiden während der Schwangerschaft?
Zum Beispiel Rohmilchprodukte, rohes und geräuchertes Fleisch, roher und geräucherter Fisch und ungewaschenes Obst und Gemüse wegen Lebensmittelinfektionen? Alkohol? Kaffee?

Eine Listerioseinfektion ist nicht ohne in der Schwangerschaft, es kann zu einem Abort oder Frühgeburt kommen. Deshalb empfehle ich, Rohmilchprodukte zu ersetzen. Es kommen leider immer wieder Listeriosefälle vor, auch in der Schweiz. Bei der Toxoplasmose bin ich weniger ängstlich. Salat muss gut gewaschen werden, auf ganz rohes Fleisch sollte man auch verzichten, jedoch finde ich geräuchertes Fleisch oder Fisch viel weniger problematisch.

Anders ist es bei Alkohol, da gibt es eine 0-Tolleranz-Grenze. Alkohol geht einszuseins zum Kind, seine Leber ist unreif und kann den Alkohol schwierig abbauen. Auch ein Glas Wein ist zuviel. Kaffee oder Tee sind 2 Tassen pro Tag ok. Anders ist es mit anderen koffeinhaltigen Getränken, wie Energy Drinks und Cola, welche ein vielfaches an Koffein enthalten eines einfachen Cappuccino. Das versetzt das Ungeborene in einen unglaublichen Stress, das kann es fast nicht bewältigen.

Wie ist es mit wehenfördernden Kräutern und Wirkstoffen wie Basilikum, Oregano, Zimt, Ingwer, Muskat, Eisenkraut, Kampfer, Minze, Anis, Schafgarbe, Kreuzkümmel, Frauenmantel, Wermutkraut, etc?
Sind diese Kräuter oder Tees deiner Meinung nach während der Schwangerschaft zu meiden?

Man muss das sehr relativieren. Heute herrscht nahezu eine Hysterie, was man alles nicht essen darf, weil es Wehen auslösen könnte, oder abstillend wirkt. Kräuter und Tees können das Wohlbefinden sehr unterstützen, jedoch haben sie im Gegensatz zu potenzierten pflanzlichen Arzneimittel oder Medikamenten eine relativ schwache Wirkung. Die Fortpflanzung ist so enorm wichtig, dass sie in unserem primitivsten Gehirn gesteuert wird, dem Stammhirn, da wo auch das Atemzentrum ist, der Herzschlag reguliert wird, Schlaf-wach-Rhythmus etc., also alles, was man zum Überleben braucht. Wir können den Herzschlag auch nicht mit Kräutern und Tees ausschalten. So können wir auch nicht mit Tees und Kräutern eine frühzeitige Geburt einleiten oder auslösen. Aber wir können Prozesse unterstützen, die bereit sind. Ist der Körper der Mutter und des Kindes bereit für die Geburt, dann kann Zimt oder Kümmel schon das eine Teilchen sein, das es in Bewegung bringt, aber die Geburt hätte auch so bald begonnen. Würden diese Gewürze und Tees wirklich so stark wirken, dann hätten ganze Länder Probleme mit Fehl- und Frühgeburten, so wie z.B. Indien, wo diese täglich in hohen Mengen konsumiert werden .

Was sind deine besten Tipps gegen Schwangerschaftsübelkeit?

Das ist ein sehr komplexes Thema, und lässt sich schwer in wenigen Worten beantworten. Grundsätzlich geht es darum, klarzustellen, dass es zwei Arten von Übelkeit gibt: die Schwangerschaftsübelkeit kann normal und ein Gesundheitszeichen sein, aber es kann auch ein klares Stresssymptom sein. Im ersten Drittel ist die Morgenübelkeit, welche tagsüber nachlässt, normal und ein Zeichen, dass das Baby den Körper der Mutter gut stimuliert, damit dieser sich gut an die Schwangerschaft anpasst. Ist es der Frau mit fortschreitendem Tag immer schlechter und abends am Schlimmsten, dann ist es ein Stress- und Erschöpfungszeichen. Natürlich gibt es auch die Kombination von beidem. Was sich machen lässt? Pausen einbauen, Programm reduzieren, langsamer werden, dem enormen Ruhe- und Schlafbedürfnis unbedingt nachgeben. Das ist manchmal sehr schwierig, da man vielleicht bei der Arbeit noch nicht sagen möchte, dass man schwanger ist. Ich mache bei extremer Übelkeit sogar eine Krankschreibung, da es sich um eine Überlastung handelt.

Zudem regelmässig essen (vor allem vor dem Schlafen noch etwas Brot oder so), weil manchmal auch eine Unterzuckerung zu Übelkeit führt. Lässt die Übelkeit nach 14 Wochen nicht nach, dann mache ich eine umfassende Abklärung, denn da gehört sie definitiv nicht mehr hin. Man kann auch hier noch vieles machen, nur ist es dann nicht mehr ganz so einfach. Aber die Ruhe bringt oft schon mal eine enorme Verbesserung.

Viele schwangere Frauen, die in meine Praxis kommen, haben standartmässig ein Nahrungsergänzungsmittel verschrieben bekommen.
Was denkst du persönlich darüber? Ist das wirklich nötig um mit allen Nährstoffen versorgt zu sein?

Nein, diese Denkweise teilen wir von unserer Praxis her nicht. Es ist wahr, dass fast alle Frauen Vitamin- und Eisenpräparate erhalten, ohne Beratung und Anamnese. Der Vitamin- und Eisenbedarf in der Schwangerschaft ist höher, auch Magnesium und Calcium braucht es mehr. Jedoch kann eine ausgewogene Ernährung diesen Bedarf decken – aber man muss halt gemeinsam schauen, was denn eine ausgewogene Ernährung ist. Dies ist ein Zeitproblem.

Was mich am meisten stört, ist, dass heute einfach Eisen- und Vitamintabletten gegeben werden, dann ist die Frau verstopft, und dagegen erhält sie dann Magnesium. Magnesium hilft meist gut bei diesem Problem, jedoch beruhigt es auch die Gebärmuttermuskulatur, und wird deshalb bei vorzeitigen Wehen oder hartem Bauch verabreicht. Hat die Frau von vornherein Magnesium, spürt sie die Warnzeichen von Überlastung nicht rechtzeitig, die sich in einem harten Bauch äussern würden. Sie kann also wichtige Zeichen nicht wahrnehmen, weil sie unterdrückt werden. Bei Verstopfung soll man eher die Ernährung anpassen und es gibt bessere Eisenpräparate.

Folsäure bis in die 13. Woche ist sinnvoll, doch auch da muss man sich bewusst sein, dass viele Produkte heute mit Folsäure ergänzt werden. In unserer Praxis bestimmen wir am Anfang der Schwangerschaft das Eisen, Vitamin D und B12 und passen dann die Ernährung mit den Frauen gemeinsam an. Leider haben viele Frauen in der Schweiz sehr niedrige Eisenwerte, auch ausserhalb der Schwangerschaft. Und Stress wirkt auch hemmend auf die Aufnahme von wichtigen Stoffen, resp. erhöht den Bedarf. Stress ist in dem Zusammenhang auch ein Thema… Du siehst, Ernährung und Verdauung sind wichtige Themen, welche man umfassend und vor allem individuell mit der Frau angehen muss.

Jetzt ganz unabhängig von der Ernährung….
Was sind deine besten Tipps bei Rückenschmerzen in der Schwangerschaft?

Ein Mix aus Bewegung, Muskelaufbau resp. -erhalt sowie Entspannung. Die Kraft, den Körper zu halten, ist wesentlich. Die Statik verändert sich, und die Muskulatur muss sich anpassen. Dazu braucht es regelmässige Bewegung. Muskelkraft und Kondition einerseits, andererseits aber auch Dehnung und Entspannung. Viele Frauen hören heute am Anfang der Schwangerschaft mit Sport auf, dabei ist es wichtig für den schwerer werdenden Körper und eben die sich verändernde Statik, die Kraft zu behalten. Und bei der Geburt braucht es auch beides, Kraft und Ausdauer. Für die Dehnung der Bänder, Sehnen und Muskeln, die Beweglichkeit, eignen sich Yoga, Pilates etc. Rückenschmerzen gehören nicht einfach dazu, und sind «normal». Sie sind ein Zeichen, dass der Körper irgendwo zu wenig Kraft hat, sich zu halten. Viele Frauen haben einen Arbeitsplatz, bei dem sie entweder viel sitzen oder stehen müssen. Da muss man zusammen schauen, wie man dies verändern kann.

Welches sind aus deiner Erfahrung die wichtigsten und wertvollsten Punkte, die man als Schwangere selber beachten und tun kann, um eine möglichst gesunde Schwangerschaft zu fördern und unterstützen?

Als erstes: auf sich selbst hören! In sich hineinhorchen, hineinschauen, spüren. Der Körper und das Kind leiten einen wunderbar durch die Schwangerschaft und bereiten Mutter und Kind emotional wie auch körperlich ideal auf die Geburt und die Nachgeburtszeit vor. Alles kommt zur richtigen Zeit und drückt sich in Bedürfnissen aus, welche plötzlich auftauchen. Diesen nachzugeben, ist wichtig. Wenn man aufmerksam ist, dann braucht man wenig Lektüre und Tipps von aussen (und Vorsicht bei Internet und Foren!). Lässt man sich von innen leiten, dann findet man im ersten Drittel mit etwas Chaos zunächst gut in die Schwangerschaft hinein, kommt in einen neuen Rhythmus und zu Wohlbefinden.

Dann ist es wichtig, eine Schwangerschaftsbegleitung zu wählen, die einem entspricht. Jede Frau kann wählen, ob sie zu einer Hebamme geht oder zu einer Ärztin. Beide machen vieles gleich, und doch manches sehr anders, da es andere Berufsbilder sind. Ideal ist, wenn die Frau ein Team bildet, das gut zusammenarbeitet.

Wenn ich darf, möchte ich gerne noch eine persönliche Frage stellen:
Welches sind die schönsten und wertvollsten Momente für dich in deinem Berufsalltag als Hebamme? Vielleicht hast du auch ein konkretes Beispiel?

Die schönsten Momente sind die, wenn die Frau oder das Paar gestärkt aus der Erfahrung des Elternwerdens herausgehen. Mich macht nichts zufriedener, als wenn es gelungen ist, die Frau zu stärken in ihrer Selbstkompetenz als Frau und Mutter, dies gilt auch für den Vater. Gemeinsam herauszufinden, was IHR Ziel ist und welches mein Auftrag ist, steht am Anfang. Danach begleite und unterstütze ich sie auf diesem Weg. Das tönt sehr einfach, ist es jedoch nicht. Ich kann dir sagen, dass das Ziel der Frau manchmal stark von dem abweicht, was ich zuerst glaubte! Ich lerne, immer besser zuzuhören. Wenn sie ihr Ziel dann erreicht hat und stolz und zufrieden ist, dann bin auch ich es.

Die Frauen, Männer, Babys, Geschichten, Lebensentwürfe, Geburten, – sie sind alle so verschieden und vielfältig – das ist das Schönste an meinem Beruf, diese Vielfalt und Lebendigkeit. Ich erlebe die oft berührendsten, sensibelsten und tiefsten Momente im Leben dieser Menschen mit, und sie schenken mir ein enormes Vertrauen. Das macht mich demütig und auch sehr dankbar. Man kommt den Menschen für eine bestimmte Zeit sehr nahe, und danach brauchen sie einen nicht mehr und ziehen ohne einen weiter – das ist schön!

Liebe Carole, herzlichen Dank für das interessante Interview und deine wertvolle Zeit.

Über Carole Lüscher-Gysi

  • Seit 2007 Tätigkeit als freipraktizierende Hebamme.
  • 9.9.2007 gemeinsam mit Christin Tlach und Claudine Blanc Arnold Gründung 9punkt9.
    9punkt9 umfasst ein Dienstleistungsangebot rund um die Geburt mit dem Fokus auf den 18 Monaten der Primärzeit, d.h. 9 Monate Schwangerschaft, Geburt und 9 Monate nach der Geburt – daher der Name 9punkt9.
  • Diverse Weiterbildungen (Geburtsvorbereitung, Rückbildungsgymnastik, Beckenbodenfunktionen und –dysfunktionen, Salutogenese in der Hebammengeburtshilfe, Master of Science Midwifery angewandte Physiologie für Hebammen).
  • Verheiratet und Mutter von 3 Kindern.
  • www.9punkt9.ch

Foto: Carole Lüscher

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