Interview mit Brigitte Küster (Institut für Hochsensibilität) — Bist du hochsensibel oder normalsensibel? Und wie du als hochsensibler Mensch den alltäglichen Herausforderungen am besten begegnest

Juli 4, 2016

Frau sitzt in der Natur im Gras

Heute geht es um das Thema Hochsensibilität. Vielleicht bist du auch schon mit diesem Thema in Berührung gekommen? Sei es in deinem privaten oder beruflichen Umfeld, oder sogar bei dir selber.

Möchtest du wissen, was der Unterschied von hochsensibel im Vergleich zu normalsensibel ist? Oder welches die grössten Herausforderungen und Bürden sind, welche Hochsensible im Alltag antreffen? Und welche hilfreichen Strategien es gibt, damit man diesen Herausforderungen am besten begegnet? Oder welche Auswirkungen eine Hochsensibilität auf die Ernährung hat?

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Solche und viele andere Fragen durfte ich meinem Interviewgast Brigitte Küster (ehemals Schorr) stellen.

Brigitte Küster ist psychologische Beraterin, Gründerin des Instituts für Hochsensibilität in der Schweiz (www.ifhs.ch) und Autorin von Fachbüchern (u.a. Hochsensibilität. Empfindsamkeit leben und verstehen / Hochsensible in der Partnerschaft / Hochsensible Mütter).

Liebe Brigitte, herzlich willkommen. Ich lege gleich mit den Fragen los. Was ist die Definition von hochsensibel im Vergleich zu normalsensibel?

Es gibt meines Erachtens verschiedene Kriterien zur Unterscheidung. Unabhängig voneinander haben Elaine Aron, die Pionierin auf dem Gebiet der Hochsensibilitätsforschung, und ich darüber nachgedacht, worin sich denn die Unterschiede äussern. Nach Elaine Aron sind es folgende Kriterien:

  • Emotionale Intensität
  • Übererregbarkeit
  • Gründliche Informationsverarbeitung
  • Sensorische Empfindlichkeit

Bereits vor Jahren habe ich aus meiner Beobachtung heraus folgende Kriterien festgelegt:

  • Schmale Komfortzone
  • Schnelle Überreizbarkeit
  • Langes Nachhallen

Stellt man nun die beiden Konzepte gegenüber, so fällt auf, dass beide sehr viel Ähnlichkeit miteinander haben. Man kann sagen, dass die Kriterien von Aron die Ursache, also die Quelle der Hochsensibilität darstellen und meine Kriterien die Folge davon sind. Wichtig ist, dass alle Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer hochsensiblen Veranlagung zu sprechen, eins davon, z.B. die Übererregbarkeit, würde nicht reichen.

Hochsensibilität ist ja keine Krankheit, sondern eine Veranlagung. Ist diese Veranlagung angeboren oder kann sie auch erworben sein und sich nach einer gewissen Zeit wieder auflösen?

Die meisten Forscher gehen davon aus, dass Hochsensibilität angeboren ist und vererbt wird, also auch genetisch verankert ist. In diesem Falle muss auch schon in der Kindheit etwas davon sichtbar gewesen sein (siehe die Kriterien oben). Andererseits kann ein Mensch auch im Laufe seines Lebens durch Lebensereignisse, traumatische Erlebnisse oder Entwicklungstraumata empfindlich werden. In diesem Fall entwickeln die Betroffenen sehr häufig Symptome, die sehr ähnlich aussehen wie die o.g. Kriterien und deshalb schwer von einer ererbten Veranlagung zu unterscheiden sind. Bei einer solchermassen erworbenen Hochsensibilität ist es möglich, die Auswirkungen zu bearbeiten und grösstenteils therapeutisch zu lösen.

Ich habe in einem deiner Bücher gelesen, dass ca 15-20 % aller Menschen als hochsensibel gelten. Was sind die wichtigsten Parameter, an denen man herausfindet, ob man selber zu diesen 15-20% gehört?

Es gibt verschiedene Fragebögen, die Interessierten eine Annäherung an das Thema ermöglichen sollen. Auf der Seite www.zartbesaitet.net findet man einen Online-Test mit sofortiger Punkteanzahl. Aber bei allen Tests gilt immer: sie ersetzen keine Beratung und können lediglich eine Idee liefern, ob man sich näher mit dem Thema Hochsensibilität beschäftigen sollte.

Du hast im Jahr 2010 das Institut für Hochsensibilität (in Altstätten / SG) gegründet, welches waren deine Beweggründe dazu?

In der Arbeit mit hochsensiblen Menschen habe ich damals festgestellt, dass Hochsensibilität auch eine gesellschaftliche Komponente hat. Es ist nicht egal, dass es so viele Menschen gibt, die diesen Wesenszug haben. Ich bin überzeugt davon, dass es einen Sinn für die ganze Gesellschaft haben muss, dass es hochsensible Menschen gibt. Aus diesen Gedanken heraus entstand die Idee, das Institut zu gründen, um ein grösseres Dach für Angebote zum Thema Hochsensibilität bieten zu können.

Und welche Angebote findet man dort?

Das Institut besteht aus mehreren Säulen:

  • Einzelberatungen und Traumatherapien
  • Vorträge und Kurse in der ganzen Deutschschweiz, Liechtenstein und Deutschland, auch im Auftrag von Institutionen
  • Veröffentlichungen (Bücher, Broschüren, Newsletter)
Die Veranlagung Hochsensibilität ist ja weder positiv noch negativ zu bewerten. Welches sind dennoch die grössten Herausforderungen und Bürden, welche Hochsensible im Alltag antreffen?

Wie sich die Hochsensibilität zeigt, ist sehr individuell und kann sehr unterschiedlich aussehen. Nach meiner Beobachtung dürfte aber die ständig drohende Überstimulation das Merkmal sein, unter dem die meisten Hochsensiblen zu leiden haben. Nichts ist zu klein, ein Reiz zu sein. Betroffene nehmen ständig viel auf und kommen mit dem Verarbeiten gar nicht nach. Das führt dazu, dass sie oft in einer ständigen Anspannung sind, also überstimuliert. In diesem Zustand kann es leicht sein, dass Konzentrationsverlust bis hin zum Blackout auftritt, man leicht gereizt und genervt ist, körperliche Symptome entwickelt und so weiter.

Und welches sind deine besten Verhaltenstipps, damit man diesen Herausforderungen am besten begegnet?

Ich denke, Betroffene sollten sich bewusstmachen, dass sie einen etwas anderen Rhythmus zwischen An- und Entspannung brauchen als Normalsensible. Dazu gehören regelmässige Pausen am Tag, nicht zu viele Aktivitäten in der Freizeit, ausreichend viel Schlaf und qualitativ hohe soziale Kontakte.

Welches Potenzial bzw. welche Gabe kann eine Hochsensibilität mit sich bringen?

Damit aus dieser Veranlagung eine Gabe wird, ist es meines Erachtens unerlässlich, die Hochsensibilität nutzbringend in die eigene Persönlichkeit zu integrieren. Solange man noch dagegen ankämpft, ist es eher eine Belastung. Aber wenn es gelingt, diesen Wesenszug vollständig zu akzeptieren und auch nach aussen hin zu zeigen, dann ist der Weg bereitet für hochsensible Gaben, wie z. B. eine grosse Empathiefähigkeit, hohe ethische Ansprüche, grosser Gerechtigkeitssinn, hohe Loyalität und eine überaus grosse Gewissenhaftigkeit.

Bei mir dreht sich ja alles um Ernährung, Gesundheit und Wohlbefinden. Was bedeutet Hochsensibilität für die alltägliche Ernährung und für die Gesundheit?

Es ist zu beobachten, dass viele Hochsensible stark auf die Ernährung reagieren oder im Laufe ihres Lebens Unverträglichkeiten entwickeln. Das kann ein Teil der sensorischen Empfindlichkeit sein. Von daher könnten Betroffene noch mehr als Normalsensible von einer ausgewogenen und stimmigen Ernährung profitieren. Sie sollten versuchen, zu beobachten, welche Lebensmittel ihnen gut tun und welche nicht. Hochwertige Lebensmittel belasten ihre Verdauung unter Umständen weniger als abgepacktes Fleisch aus dem Supermarkt. Aber auch hier gibt es kein allgemeingültiges Rezept. Eine Ernährungsberatung, die das Konzept der Hochsensibilität mit einbezieht, kann sinnvoll sein.

Wenn eine hochsensible Person ihre Ernährung umstellen möchte, gibt es da deiner Meinung nach anderes zu beachten (für die Person selber und für den Ernährungscoach) als bei einer normal sensiblen Person?

Grundsätzlich nein, würde ich sagen, denn ob normal- oder hochsensibel: es geht ja doch immer darum, eine Stimmigkeit zwischen der Person und der Ernährung herzustellen. Möglicherweise braucht es aber mehr Zeit, herauszufinden, was stimmig ist und der Ernährungscoach sollte unter Umständen bereit sein, auch ungewöhnliche Wege zu beschreiten.

Eine persönliche Frage. Du bist ja selber auch hochsensibel. Welches sind deine wichtigsten Massnahmen und Verhaltensweisen, die du wegen bzw. dank deiner Hochsensibilität in deinen Alltag integriert hast?

Eine ausführliche Mittagspause, viel Regenerationszeit, nach anstrengenden Veranstaltungen einen terminfreien Tag, eine automatische Mailantwort, die darauf hinweist, dass es evtl. etwas Zeit braucht, bis ich antworten kann, ein-bis zweimal im Jahr eine Ferienzeit nur für mich (und mit mir) alleine.

Welche Literatur empfiehlst du, wenn man sich weiter mit dem Thema beschäftigen möchte?

Als Einstieg empfehle ich gerne das Buch von Georg Parlow „zart besaitet“. Danach kommt es darauf an, in welchem Bereich man sich weiter vertiefen möchte. Ob es vor allem um Kinder gehen soll, um Partnerschaften, das hochsensible Mutter-Sein oder um den Beruf, zu allen diesen Bereichen gibt es Bücher. Ich denke, man kann auch zu viel lesen. Ein oder zwei Bücher reichen in der Regel vollkommen aus, um sich ein Bild zum Thema zu machen. Danach ist dann oft eine Einzelberatung sinnvoll, um das Ganze individuell anzuschauen.

Liebe Brigitte, herzlichen Dank für das interessante Interview und deine wertvolle Zeit.

Ich danke dir ebenfalls für die Möglichkeit dieses Interviews.


Über Über Brigitte Küster (ehemals Schorr)

  • Leiterin des Institutes für Hochsensibilität IFHS
  • Brigitte Küster ist diplomierte psychologische Beraterin SGfB, Erwachsenenbildnerin FA und Trainerin für Kompetenzmanagement nach CH-Q Studium der sozialen Verhaltenswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Soziologie.
  • Als Leiterin des Institutes beobachtet sie den aktuellen Stand der Forschung und Literatur. Aus dieser Kenntnis heraus hält sie Vorträge und entwickelt und gibt die Seminare, Trainings und Coachings des IFHS.
  • Neben der Tätigkeit in ihrer Beratungspraxis ist sie auch Autorin von Fachbüchern (u.a. Hochsensibilität. Empfindsamkeit leben und verstehen / Hochsensible in der Partnerschaft / Hochsensible Mütter).
Brigitte Küster

Foto: Brigitte Küster

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